Die Grundlagen
Der Weg des Herzyogas

Der spirituelle Weg zur vollständigen Erleuchtung ist kein Zufallsprodukt oder ein Mysterium. Alle Menschen, die nonduale Befreiung erlangt haben, sind sich seit jeher einig, dass es letztlich nur ein Yoga gibt, nur einen Weg zur ultimativen Freiheit, egal welcher spirituellen Tradition sie gefolgt sind. Entsprechend deutlich wiesen sie in ihren Lehren auf die universellen Prinzipien des Erleuchtungsweges hin, welche Verirrungen dabei möglich sind, und welche Praktiken am effektivsten zum Ziel führen.

Nachfolgend findest du einen Überblick über die Grundlagen des Erleuchtungsweges. Bitte lies dir die Grundlagen aufmerksam durch und lass sie auf dich wirken. Das garantiert einen möglichst reibungslosen Einstieg in die nonduale Tantra Yoga Praxis.


1.) Die Sicht der Praxis

Warum nonduales Tantra Yoga praktizieren?

Das Interesse für spirituelle Praxis geschieht nicht zufällig. Es entspringt einem tiefen, individuellen Gefühl davon, dass dieses normale Leben nicht alles sein kann. Dieses Gefühl kann nicht erzwungen werden, noch ist es eine religiöse Glaubenssache. Wenn wir beginnen, uns vom Erleuchtungsweg angezogen zu fühlen, dann wollen wir nicht den nächsten Spass, Erfolg oder die nächste Mitgliedschaft, sondern wir wollen Wahrhaftigkeit. Etwas in uns will sich partout nicht mehr zufrieden geben mit dem gängigen Erklärungsmodell und Weltbild, das uns beigebracht wurde. Wir fühlen uns nicht mehr wohl damit, unser ganzes Leben nach einer Erzählung auszurichten, die wir nur vom Hörensagen kennen und die immer weniger Sinn macht. Wer sich wirklich für spirituelle Praxis interessiert, dem reicht Hörensagen nicht mehr. Man will mit eigenen Augen sehen. Alles andere geht plötzlich nicht mehr. Egal, wie sehr wir versuchen, uns zusammenzureissen und einzufügen, wir schaffen es einfach nicht mehr, an die gängige Vorstellung eines erfüllten und sinnvollen Lebens zu glauben. Alles wirkt zunehmend hohler und wir sehnen uns nach mehr Tiefe. Wir wollen endlich Gewissheit.

Alle Buddhas aller Zeiten gehen durch diesen Prozess hindurch. Es ist die Bewusstwerdung davon, wie verwirrt und ahnungslos wir eigentlich bisher durchs Leben gegangen sind. Wie viel Zeit und Aufmerksamkeit wir in Dinge und Aktivitäten gesteckt haben, die uns kein bisschen näher zu uns geführt haben. Als hätten wir uns bisher nur abgelenkt von einer tiefen Ahnung in uns, wie fruchtlos all unsere Bemühungen sind, echte Sicherheit, Zufriedenheit und Verbindung zu finden. Diese Erkenntnis ist erstmal desillusionierend und ernüchternd. Nicht selten geht sie mit einem Gefühl des Unbehagens oder existentiellen Angst einher. Wir fürchten, den Boden unter uns zu verlieren. Tatsächlich aber bemerken wir nur den Treibsand, in dem wir bisher gestanden sind.

Der einzige Zweck spiritueller Praxis besteht darin, uns auf festen Boden zu führen. Über alle Selbstbilder und Orientierungspunkte hinauszugehen, die wir bisher nur geglaubt und angenommen haben. Denn alles, was wir bloss annehmen und nicht wirklich wissen, wird uns niemals wirkliche Stabilität und Freiheit geben. Aus diesem Grund ist die yogische Praxis keine Religion und kein Glaubensbekenntnis. Die Buddhas wollen uns nicht davon überzeugen, dass sie richtig lagen. Das Angebot der Buddhas besteht ausschliesslich darin, uns einen Weg zu zeigen, wie wir selbst unsere wahre Natur erkennen und ewige Freiheit finden können. Wir sind aufgefordert, wirklich hinzuschauen und unser grundsätzliches Erleben zu untersuchen. Die Buddhas fordern uns nicht dazu auf, ihnen zu glauben, sondern skeptisch im originalen Sinne des Wortes zu sein: den eigenen Geist zu öffnen, alle Konzepte in Frage zu stellen und alle Aussagen in unserem direkten Erleben zu überprüfen. Nur durch diese allumfassende Selbstuntersuchung unseres Geistes können wir schliesslich unsere wahre Natur erkennen, die jenseits von dualistischer Gegensätzlichkeit und frei von jeglicher Begrenztheit ist.

Das nonduale Tantra Yoga, wie wir es bei Amrita Mandala praktizieren, ist eine systematische spirituelle Methodik, um unsere wahre Essenz zu erkennen und vollständig in unserem gesamten Erleben zu verwirklichen. Entscheidend ist hierbei der Bezug zu Menschen, die diesen Weg bereits komplett gegangen sind. Deshalb geht es beim nondualen Tantra Yoga nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern die Übertragung des erwachten Geistes der Buddhas aufrecht zu halten und in Form von Essenzpraktiken einen möglichst reibungslosen und schnellen Weg zur Buddhaschaft zu ermöglichen.

Vergänglichkeit - Die Dämmerung des Dharmas

Im Grunde wissen wir es alle: unser Leben sowie alles, was wir erleben, ist vergänglich. Es gibt kein Besitztum, keine Errungenschaft, keinen Erfolg und keine Beziehung, die wirklich von Dauer ist. Alles, was wir zu haben glauben, wird uns wieder genommen werden. Dies ist die einzige Gewissheit, die wir haben. Unter diesem Umstand könnte man meinen, dass wir Menschen uns sicherlich viele Gedanken über die Vergänglichkeit machen. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall. Die allermeisten Menschen scheuen davor zurück, sich mit Vergänglichkeit zu beschäftigen, und ziehen es vor, die Unausweichlichkeit von Tod und Vergehen so gut es geht aus ihrem Leben auszublenden. Zu unbequem scheint uns diese Reflexion. Entsprechend gross sind die Schocks, die Krisen und das Leid, wenn wir früher oder später unweigerlich davon eingeholt werden.

Die Reflexion über Vergänglichkeit ist so unbequem für uns, weil sie uns mit Szenarien und Gefühlen konfrontiert, von denen wir glauben, dass wir nicht damit umgehen können. Dazu gehören Ungewissheit, Kontrolllosigkeit, Alleinsein und Sinnlosigkeit. Dabei können wir uns fragen: wenn es schon unaushaltbar ist, an Tod und Verlust zu denken, wie wird es wohl sein, wenn es tatsächlich passiert?

Die Beschäftigung mit Vergänglichkeit zeigt uns mit aller Deutlichkeit, wie wenig wir eigentlich wissen und wie wenig hilfreich all das Wissen ist, was wir uns bisher angeeignet haben. Wir erkennen, dass wir komplett unvorbereitet darauf sind und niemand uns die Aufgabe abnehmen kann, damit klarzukommen. Wir sind komplett auf uns allein gestellt. Jeder und jede für sich allein. So erschreckend und ernüchternd das auf den ersten Blick sein mag, so trägt diese Erkenntnis ein unschätzbares Potential in sich. Dadurch wird in uns eine Urkraft erweckt, die von nun an die Segel richtig setzen will. Es macht keinen Sinn mehr, unsere gesamte Energie und Aufmerksamkeit in die Vermeidung des Unausweichlichen zu stecken. Wir sind bereit, tiefer zu schauen und uns den essentiellen Fragen des Lebens zu widmen. Was bin ich eigentlich? Wie finde ich Freiheit? Wie finde ich Sicherheit? Wie finde ich Glückseligkeit?

Die Eröffnung dieser Fragen ist die Dämmerung des Dharmas in unserem Geist. Wir erkennen unsere existentielle Verlorenheit und beginnen, uns nach Lösungen umzusehen. Spirituelle Praxis erscheint plötzlich sinnvoll und attraktiv, wo sie früher noch langweilig und lebensfremd gewirkt hat.

Wenn wir uns immer wieder unserer Vergänglichkeit bewusstwerden, behalten wir die Prioritäten im Blick. Das heisst aber nicht, dass wir das Leben und seine vergänglichen Erlebnisse nicht mehr geniessen können. Im Gegenteil, es ist gerade die Verankerung in der Wirklichkeit, die uns mit einer ganz anderen Wertschätzung an unser Leben, unsere Beziehungen und Aktivitäten herantreten lässt. Das ist das unschätzbare Geschenk, das wir mit unserer menschlichen Existenz erhalten haben. Wir haben die Möglichkeit zu erkennen, in welcher existentiellen Lage wir uns befinden. Und wie entscheidend es ist, unsere begrenzte Zeit weise zu nutzen, indem wir unseren Fokus und unser Handeln im Leben entsprechend ausrichten.

Selbstbezogenheit - Der Kern der dualistischen Täuschung

Warum erkennen wir unsere wahre Natur der nondualen Essenz nicht, wenn diese doch die ganze Zeit da ist? Der Grund für das Unbewusstsein über unsere wahre Natur des Geistes liegt in unserem Festklammern an die Vorstellung eines getrennten Selbst, das wir "ich" nennen. Wir glauben, eine fixe, existentiell unabhängige Identität zu haben, die im Zentrum aller Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen steht, die wir erleben. Durch diese Identifikation mit einem Selbst fühlen wir uns betroffen von allen Erscheinungen in unserem Geist. Das Gefühl der Getrenntheit lässt uns elementar mangelhaft und bedürftig fühlen, weshalb wir unentwegt darum bemüht sind, unangenehme Erfahrungen zu bekämpfen und angenehme Erfahrungen festzuhalten. Wir empfinden eine derart starke existentielle Abhängigkeit von den Menschen und der Welt um uns herum, dass wir Todesangst davor haben, allein zu sein. Natürlich ist diese Angst nicht immer in ausgeprägter Form präsent. Solange die Dinge in unserem Leben gut laufen und wir in Schein-Stabilität leben, merken wir von dieser Angst wenig. Nichtsdestotrotz ist unser ganzes Verhalten unterschwellig von dieser Angst geprägt.

Im Modus der Selbstbezogenheit sind wir so mit dem Versuch der Kontrolle unserer (inneren und äusseren) Umstände beschäftigt, dass wir niemals auf die Idee kommen, dieses "ich" in Frage zu stellen, in dessen Dienste wir nach Kontrolle und Ganzheit suchen. Durch die pausenlose Verwicklung in die Tendenzen der Anhaftung und des Widerstandes bekräftigt sich fortlaufend die Behauptung eines "ich" als Zentrum unseres Erlebens. Es ist, als wären wir in einem Traum und unser ganzer Fokus fliesst in den Versuch, den Traum schöner und weniger bedrohlich zu machen, anstatt uns dem Träumenden zuzuwenden und aufzuwachen.

Selbstbezogenheit bezeichnet also die habituelle Tendenz des Geistes, sich selbst ein fixes Identitätszentrum zu geben. Diese Tendenz ist die Ursache der dualistischen Getäuschtheit und allen existentiellen Leidens. Und solange die Tendenz der Selbstbezogenheit in unserem Bewusstsein unentdeckt bleibt, übersehen wir systematisch unsere Buddha Natur. Entweder wir klammern uns an ein "ich" oder erkennen uns als Buddhas.

Bodhicitta - Erleuchtung für alle

Alle fühlenden Wesen, vom kleinsten Mikroorganismus bis hin zum Menschen und allen Wesen, die keine physische Form haben, besitzen die Essenz der Buddha Natur. Das heisst, alle Wesen tragen in sich die ursprüngliche Reinheit des erleuchteten Geistes. Als fühlende Wesen sind sie sich dessen aber nicht bewusst und leben dadurch in Getäuschtheit über ihre wahre Natur. Im Unwissen über ihre selbstlose, nonduale Essenz klammern sie sich fortwährend an die Vorstellung eines begrenzten "ich". Der Begriff «Samsara» steht für die Gesamtheit aller fühlenden Wesen, die in dieser dualistischen Getäuschtheit leben.

Nun möchte ich dich bitten, dir einmal vorzustellen, dass du dich mit vielen anderen Menschen auf einem Schiff im Meer befindest. Plötzlich geschieht ein Unfall und das Schiff sinkt innerhalb von Minuten. Mit Müh und Not erkennst du ein umhertreibendes Rettungsboot und kletterst hinein. Was würdest du jetzt tun? Würdest du dich hinlegen und dich erstmal ausruhen? Oder würdest nicht sofort damit beginnen, den anderen Ertrinkenden zu helfen und sie ins Boot zu holen?


Genauso sieht es auch beim Erleuchtungsweg aus. Wie erfüllend ist die Vorstellung, nur mich selbst in Sicherheit zu bringen, während alle anderen um mich herum noch leiden? Die Vorstellung, einen Weg in die Freiheit zu kennen und diesen für mich zu behalten? Wahrscheinlich spürst du jetzt gerade einen ziemlich klaren, wenn nicht sogar selbstverständlichen Wunsch, auch allen anderen zu helfen. Das ist das universelle Mitgefühl von Bodhicitta. Bodhicitta bezeichnet den Wunsch und die Entschlossenheit, nicht nur mich selbst, sondern alle Wesen vom Leiden zu befreien. Durch Bodhicitta schwören wir, Buddhas zu werden, um alle Wesen in die Buddhaschaft zu führen.

Doch Bodhicitta ist nicht nur die Grundlage, sondern auch die Bedingung für die vollständige Erleuchtung. Solange ich die Erleuchtung nur für mich selbst anstrebe, halte ich unweigerlich an einer rudimentären Form von Selbsthaftigkeit fest. Erst durch Bodhicitta übersteige ich die letzte Grenze zwischen "mir" und "anderen" und erreiche echte, nonduale Freiheit. Deshalb gilt die Kultivierung des universellen Mitgefühls als essenzielles Element des nondualen Tantra Yogas, das in keiner Praxiseinheit fehlen darf.

Zugleich ist Bodhicitta aber auch einer der häufigsten Stolpersteine für Praktizierende. Neulinge und Fortgeschrittene gleichermassen zweifeln oft daran, ob sie wirklich die Motivation haben, die Befreiung ALLER Wesen zu bewirken. Diese Zweifel sind allerdings ganz normal und gehören zum Pfad dazu. Es besteht letztlich kein Widerspruch zu Bodhicitta, wenn man zuerst einmal darum bemüht ist, sich selbst Gewissheit über das Dharma zu verschaffen. Solange wir selbst nicht auf dem Rettungsboot sind und nicht wissen, ob es wirklich sicher ist, können wir nicht mit gutem Gefühl anderen helfen, ins Boot zu kommen. Auf diese Weise bedingen sich unsere eigene Freiheit und die Freiheit aller anderen gegenseitig. 

Die 3 Körper unseres Wesens - Materie, Feinstofflichkeit, Leerheit

Obwohl der Erleuchtungsweg letztlich nicht in Worte gefasst werden kann, ist es wichtig, ein konzeptuelles Verständnis davon zu haben, was auf dem Pfad von der dualistischen Getäuschtheit zur Erleuchtung passiert. Dieses Verständnis hilft dabei, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und sich in spirituellen Sackgassen zu verlaufen. Als Erklärungsmodell hat sich in allen tantrischen Traditionen die Lehre von den 3 Körpern (skt. Trikaya) bewährt. Das Trikaya-Modell erklärt, wie die verschiedenen Ebenen unserer Wahrnehmung zusammenhängen und wo genau die dualistische Getäuschtheit entsteht bzw. wie sie aufgelöst werden kann. 

1. Materieller Körper - Nirmanakaya

Wenn wir Menschen gefragt werden, was wir sind, dann zeigen wir zuerst einmal auf unseren materiellen Körper. Diese Antwort ist so naheliegend, weil unser materieller Körper so naheliegend ist. Wir können auf ihn als konkrete Form zeigen, als definierbares Objekt, das wir mit unseren Augen sehen, mit unserem Tasten fühlen, mit unseren Ohren hören, mit unserer Nase riechen und mit unserer Zunge schmecken können. Dabei hat jeder menschliche Körper eine leicht andere Form, weshalb wir von Individualität sprechen. Das heisst, unser materieller Körper ist eine Form, die es im Vergleich mit anderen Körpern nur einmal gibt. Das Gleiche gilt natürlich auch für alle anderen Körper, egal ob menschlich oder nichtmenschlich. Kein Grashalm ist absolut identisch mit einem anderen. Die Wahrnehmungsebene der Materialität zeichnet sich also durch objektive Definierbarkeit und Individualität aus, die wir mit unseren Sinnen erleben.  

Den materiellen Körper nennt man beim nondualen Tantra Yoga Nirmanakaya, was Sanskrit ist für "manifestierten Körper".

2. Feinstofflicher Körper - Sambhogakaya

Nun bestehen wir natürlich nicht nur aus einer materiellen Form wie etwa ein Stein. Was uns von einem Stein unterscheidet, ist unsere bewusste Lebendigkeit. Wir haben ein qualitatives Bewusstsein der Welt, das uns diese bewusst erleben lässt. Dieses innere Erleben ist allerdings nichts mehr, worauf wir objektiv zeigen können. Unsere Gefühle, Gedanken und geistigen Zustände haben keine konkrete Form oder Stofflichkeit. Deshalb bezeichnet man diese Sphäre als feinstofflichen Körper. Das Gefühl der bewussten Lebendigkeit, das uns von einer blossen Kamera unterscheidet, ist ozeanisch, fliessend und unsere gesamte Wahrnehmung durchdringend. Wir erleben die Anwesenheit und Abwesenheit, das Kommen und Gehen aller Wahrnehmungen in einem unaufhörlichen Strom.

Der feinstoffliche Körper wird als Sambhogakaya bezeichnet, was "Genusskörper" bedeutet.

3. Leerheitskörper - Dharmakaya

Die meisten philosophischen und spirituellen Untersuchungen der Frage «Was bin ich?» hören auf der Ebene der Feinstofflichkeit auf. Wenn wir uns den feinstofflichen Körper allerdings gründlich anschauen, so finden wir nichts, von dem wir sagen können, dass es existiert. Das heisst, wenn wir die Natur der Feinstofflichkeit suchen, dann finden wir nichts Konkretes, das auf irgendeine Art und Weise identifiziert oder begrifflich gefasst werden könnte. Diese Unauffindbarkeit einer letztendlichen Substanzhaftigkeit ist, was als Leerheit bezeichnet wird. Es ist die wahre Natur des Geistes und aller Phänomene. Leerheit ist nichts was wir sehen können, sondern die Natur des Sehens selbst. Wenn wir die Leerheit als Natur unseres Geistes erkennen, dann gehen wir komplett über die Begriffe von «Existenz» und «Nichtexistenz» hinaus. Wir können nicht sagen, dass Leerheit existiert, weil wir sie bei genauer Untersuchung nicht als Ding finden können. Wir können aber auch nicht sagen, dass sie nicht existiert, weil da zweifellos bewusste Wahrnehmung in Form von Erscheinungen ist.


Der Leerheitskörper ist die ultimative Wirklichkeit, die nonduale Essenz unseres Seins, die ohne Geburt und Tod ist. Traditionellerweise spricht man vom Dharmakaya, dem "Körper der Wahrheit".

Die Notwendigkeit eines spirituellen Freundes (skt. Guru)

Die Befreiung unseres Geistes von der dualistischen Getäuschtheit ist nicht einfach. Die Tendenz der Selbstbezogenheit ist so fest in unserem Geistesstrom eingeprägt, dass wir zu Beginn des Pfades nicht ansatzweise erahnen können, wie subtil und tief diese Prägung steckt. Zwar haben wir alle die nonduale Essenz bereits vollkommen in uns, aber die Unbewusstheit darüber hat mehrere immer subtiler werdende Ebenen. Deshalb ist es verführerisch, nach bestimmten Einsichten oder spirituellen Erlebnissen zu denken, dass man die nonduale Essenz gesehen oder gar die Erleuchtung erreicht hat. Wenn wir nicht mit der nötigen Vorsicht und Bewusstheit an die nonduale Praxis herantreten, dann verfangen wir uns unweigerlich in verzerrten Vorstellungen über Erleuchtung, in denen wir jahrelang oder für den Rest unseres Lebens hängenbleiben können. Denn schliesslich führt nichts anderes zur Erleuchtung als die Erkenntnis der wahren Natur des Geistes. Ist diese Erkenntnis aber inkorrekt oder irrtümlich, dann kommen wir der spirituellen Befreiung keinen Schritt näher.

Aus diesem Grund ist es praktisch unmöglich, den Erleuchtungsweg ganz ohne einen sog. spirituellen Freund (skt. Guru) zu gehen. Der spirituelle Freund ist ein Mensch, der auf dem Weg bereits fortgeschritten ist oder ihn im besten Falle bereits komplett gegangen ist. Er besitzt eine stabile Erkenntnis der wahren Natur des Geistes und kann uns diese in Form einer direkten Einführung aufzeigen, sodass wir mit korrekter Einsicht praktizieren können. Ebenso sorgt der spirituelle Freund dafür, dass wir nicht plötzlich in verzerrten Vorstellungen festkleben oder sonstwie vom Weg abkommen. Deshalb wird die Beziehung zu einem spirituellen Freund in allen Linien des nondualen Tantra Yogas als essenziell angesehen.

Bevor wir einen spirituellen Freund bzw. einen Lehrer suchen, ist es jedoch wichtig zu wissen, was diese Verbindung genau einschliesst. Eine spirituelle Lehrerin ist ausschliesslich dazu da, uns zu unserer nondualen Essenz zu führen und dabei zu begleiten, komplette Verwirklichung zu erlangen. Ein Guru ist nicht dazu da, uns zu therapieren oder uns das Klavierspielen beizubringen. Auch ist es völlig in Ordnung, wenn wir in weltlichen Angelegenheiten eine andere Meinung haben als unser Guru. Ein spiritueller Lehrer will von uns weder Verehrung noch blinden Gehorsam. Einzig entscheidend ist, dass wir dem Lehrer spirituell vertrauen und bereit sind, seine Instruktionen zu praktizieren. Ohne dieses Vertrauen ist keine spirituelle Begleitung möglich, da wir dann nicht in der Lage sind, unseren Geist über unsere konventionellen Standpunkte hinweg zu öffnen, um die tiefere, nonduale Präsenz des Gurus zu erkennen. Und gerade diese Erkenntnis ist notwendig, um unsere eigene nonduale Essenz wahrnehmen zu können.

2.) Der Weg der Praxis

Der Stufenweg des Erwachens

Der Weg von der dualistischen Getäuschtheit zur vollständigen Erleuchtung führt über zahlreiche Bewusstseinswandel, die der fortschreitenden Erkenntnis des nondualen Bewusstseins (Dharmakaya) entsprechen. Am Anfang des Pfades befinden wir uns auf Stufe 0. Zwar besitzen wir ein Interesse an der Erleuchtung und beschäftigen uns theoretisch damit, aber wir haben noch keine direkte Erfahrung unserer nondualen Natur gemacht. Das ändert sich mit dem ersten Erwachen. Das erste Erwachen ist gleichbedeutend mit der ersten direkten und definitiven Erfahrung der Leerheit bzw. der nondualen Natur des Geistes. Mit dieser permanenten Einsicht betreten wir den Pfad der Leerheitspraxis, was im Theravada Buddhismus passenderweise Stromeintritt genannt wird.

Mit dem definitiven Geschmack des Erwachens beginnen wir damit, die dualistische Getäuschtheit direkt zu durchschauen, sodass sich die Tendenz der ich-Anhaftung in unserem Geist zunehmend auflöst. Hierbei entdecken wir nach und nach, dass nicht nur unser Geist, sondern auch alle Phänomene nichts anderes sind als das selbstlose Leuchten der Buddha Natur. Dieser Pfad beinhaltet dabei zahlreiche Stufen, die für alle Praktizierenden gleich ablaufen, egal welcher spirituellen Tradition sie angehören. Der Erleuchtungsweg ist für alle Menschen gleich, nur die Zeitdauer unterscheidet sich von Person zu Person. Das Wissen um die Universalität des Erleuchtungsweges ist eine der grossen Stärken des nondualen Tantra Yogas. Zwar existieren in den unterschiedlichen Traditionen verschiedene "Wegkarten" der Erleuchtungswegs, die sich teilweise auf andere Zwischenziele fokussieren, aber bei genauem Hinsehen beziehen sie sich alle auf ein und denselben Weg der fortschreitenden Leerheitseinsicht.

Das 13 Bhumi Modell

Die Wegkarte, die wir bei Amrita Mandala benutzen, ist das 13 Bhumi Modell. Das 13 Bhumi Modell basiert auf der Tatsache, dass jedes Erwachen einen permanenten Eindruck in unserem feinstofflichen Körper hinterlässt. Mit jedem Erwachen wird der feinstoffliche Körper klarer und offener. Und mit etwas Feinfühligkeit lässt sich dadurch im feinstofflichen Körper lesen, ob und inwieweit die Leerheitseinsicht schon fortgeschritten ist, sowohl bei sich selbst wie auch bei anderen. Möglich ist dieses energetische Lesen, weil unser feinstofflicher Körper über zahlreiche Energiezentren und korrespondierende Schichten verfügt. Bekannt sind die 7 Chakren. Darüber hinaus gibt es aber auch noch höhere Energiezentren. Diese Zentren/Ebenen sind 13 an der Zahl und werden Bhumis (skt. Ebenen) genannt. Aus der vertikalen Perspektive betrachtet, befindet sich das 1. Bhumi auf der Höhe zwischen unseren Augen und das 13. Bhumi rund 6 Meter oberhalb unserer Scheitelspitze.

Die Tendenz der dualistischen Getäuschtheit ist energetisch in den Schichten der Bhumis 1-10 gespeichert. Der Pfad der Leerheitspraxis führt nun sequenziell durch diese Bhumis hindurch und befreit die dort festgefahrene Energie der Selbstbezogenheit, bis die Getäuschtheit über die wahre Natur des Geistes und aller Phänomene im Geist restlos geklärt ist. Wenn dieser Prozess mit der Purifikation des 10. Bhumis abgeschlossen ist, haben wir die vollständige Erleuchtung des Geistes und die Befreiung von dualistischer Getäuschtheit bzw. Samsara erreicht. Unser gesamtes materielles und feinstoffliches Erleben leuchtet nun als das nonduale Strahlen des Leerheitskörpers.

Zuflucht nehmen in Buddha statt in Samsara

Mit dem Beginn der Tantra Yoga Praxis fangen wir an, die Scheinsicherheiten unseres Lebens zu durchschauen und unsere Aufmerksamkeit auf wahre Sicherheit und Freiheit auszurichten. Diese Ausrichtung wird traditionell als Zufluchtnahme bezeichnet. Bis zum Beginn unserer spirituellen Praxis nehmen wir zwar auch Zuflucht, allerdings nicht in unserer wahren Natur, sondern in der dualistischen Getäuschtheit. Auf unserer existentiellen Suche nach stabiler Sicherheit und Glückseligkeit nehmen wir immer wieder vergebens Zuflucht in vergänglichen Dingen wie Arbeiten, Feiern, Social Media, Alkohol, Zigaretten, Drogen, Videospiele, Sex, Erfolg, Errungenschaften usw. In unserer dualistischen Verwirrung nehmen wir überall Zuflucht, nur nicht dort, wo wahre Sicherheit, Freiheit und Zufriedenheit zu finden sind.

Die Zufluchtnahme in unserer wahren Natur gehört deshalb zum festen Bestandteil der täglichen Praxis des nondualen Tantra Yogas. Bei Amrita Mandala nehmen wir in Form eines grundlegenden Gebets explizite Zuflucht im Guru, seinem reinen Land, Buddha, Dharma und Sangha. Guru steht hierbei für die erleuchteten Meister und Meisterinnen, mit deren reiner Präsenz wir praktizieren. Das reine Land ist der energetische Einflussbereich von Guru Rinpoche. Buddha steht für unseren eigenen erleuchteten Geist. Dharma steht für die Lehre und die Praxis des nondualen Tantra Yogas. Und Sangha steht für die Gemeinschaft aller Praktizierenden und aller erleuchteten Wesen.

Das Gebet der Zufluchtnahme gehört zur täglichen Praxis und legt den Grund für unseren Alltag, sodass wir in Verbindung mit unserer Essenz bleiben und immer weniger Zuflucht in Samsara suchen.

Mantra & die 3 Ebenen des nondualen Tantra Yogas

Der Weg des Tantra Yogas wird auch als "Pfad der Transformation" bezeichnet. Durch Tantra Yoga transformieren wir unsere dualistisch getäuschte Wahrnehmung in die reine, nonduale Wahrnehmung unserer Buddha Natur. Praktisch geschieht dies durch die Verwendung von reinen Symbolen wie Mantras, Visualisierungen, Gebeten, Mudras oder sonstigen Rituale. Als "reines" Symbol gilt eine Form, die von einem Buddha erschaffen oder energetisch geprägt wurde. Das heisst, wenn wir uns in unserer Praxis auf ein solches reines Symbol wie z.B. das Mantra OM ausrichten, dann öffnen wir uns gleichzeitig der reinen, selbstlosen Frequenz, dessen Ausdruck das Mantra ist. Lassen wir diese Frequenz auf uns wirken, dann geschieht eine Transformation in unserem Geist. Die sich im Kreis drehende Energie der selbstbezogenen Täuschung kann sich lösen und der Geist befreit sich von der dualistischen Tendenz der Subjekt-Objekt Spaltung.

Wir sprechen bei diesem Transformationsprozess von den 3 Ebenen des nondualen Tantra Yogas:

1. Äussere, symbolische Ebene: Mantra, Visualisierung, Gebet, Mudra, Ritual
2. Innere, gefühlte Ebene: Die fühlbare Wirkung des Symbols in Form von Segen.
3. Geheime, essentielle Ebene: Die nonduale Essenz des Segens.

Diese 3 Ebenen korrespondieren unseren drei Körpern der Materie, Feinstofflichkeit & Leerheit.

Wenn wir uns beispielsweise auf eine Meditationsgottheit wie die grüne Tara ausrichten, dann beginnen wir die Praxis mit der Vergegenwärtigung einer äusseren Form von Tara, etwa in Form einer Visualisierung, eines Gebets oder eines Mantras. Wir benutzen diese äusseren Formen, um die innere, feinstoffliche Frequenz von Tara in unseren Geist einzuladen. Nachdem wir also für eine Weile den Kontakt zur visualisierten Tara aufgenommen haben, lassen wir die Visualisierung und damit die äussere Form der Praxis los, damit sich die innere Bedeutung von Tara entfalten kann. Dazu bleiben wir still und behalten unseren Geist offen und empfänglich, ohne etwas zu erwarten oder zu erzwingen.

Schliesslich bemerken wir, dass sich etwas in unserer Wahrnehmung zu verändern beginnt. Ein unbeschreibliches Gefühl des Segens beginnt sich in unserem Erleben zu entfalten. Dabei entsteht eine energetische Reibung zwischen unserem engen Zustand der Selbstbezogenheit und der reinen, selbstlosen Offenheit der Präsenz von Tara. Das kann von allerhand subtilen Wahrnehmungen wie Glücksgefühlen, Visionen oder Klängen begleitet werden (muss aber nicht). Entscheidend ist, dass wir unseren Geist stets offen und empfänglich halten, ohne uns an etwas zu klammern oder etwas beiseite zu schieben. Wir sitzen und geniessen einfach die Präsenz Taras.

Wenn wir in dieser offenen und empfänglichen Geisteshaltung verweilen, ohne dass wir eine Anhaftung an die Segensgefühle entwickeln, erkennen wir schliesslich die ultimative Einheit von Tara und unserem Geist. Die Tendenz der Egozentriertheit entspannt sich in einen einfachen, aber letztlich undefinierbaren "Zustand" von leerer, friedlicher und allumfassender Bewusstheit, in dem es keinen Widerspruch zwischen Ruhe und Bewegung, Stille und Gedanken, Geist und Welt mehr gibt. Die Erkenntnis unserer nondualen Essenz ist die ultimative, geheime Ebene der Tantra Praxis.

Bhakti Yoga - Die Kernpraxis der Hingabe

Die 3 Ebenen des nondualen Tantra Yogas machen deutlich, dass die äussere Form der Praxis wie Mantras oder Visualisierungen zwar wichtig ist, aber nicht die entscheidende Rolle spielt. Entscheidend ist die offene Geisteshaltung, die wir einnehmen und kultivieren, um den Segen der Praxis zu empfangen und unsere wahre Natur, jenseits von allen dualistischen Vorstellungen, zu erkennen. Diese offene und empfängliche Geisteshaltung wird auch als Hingabe bezeichnet.

So einfach das klingen mag, so schwierig ist es für ein dualistisch getäuschtes Wesen, sich tatsächlich hinzugeben. Denn Hingabe ist das genaue Gegenteil vom endlosen Versuch, die Dinge zu kontrollieren, der als Ich-Identifikation unser ganzes Leben bestimmt. Hingabe führt über die Welt unserer Konzepte hinaus, im Rahmen derer wir glauben, eine bestimmte Kontrolle zu haben. Erst, wenn wir über dasjenige hinausgehen, was wir zu kennen meinen, kommen wir vom Bekannten zum Gewissen, von der Gefangenschaft zur Freiheit.

Um diesen Schritt über unseren dualistischen Kleingeist hinaus machen zu können, braucht es ein hohes Mass an mutigem Vertrauen, das wir allerdings erst einmal aufbauen müssen. Da wir uns in unserer selbstbezogenen Verwirrung hierbei nicht selbst zu helfen wissen, müssen wir uns an jemanden wenden, der den Erleuchtungsweg bereits gegangen ist. Das ist die Praxis von Bhakti Yoga oder Guru Yoga, wie sie im Vajrayana bezeichnet wird. Bei Bhakti Yoga wenden wir uns einem erleuchteten Menschen – einem Buddha - zu, um einen fühlbaren Kontrastpunkt zwischen dualistischer und nondualer Wahrnehmung in unserem Geist zu schaffen. 

Bhakti Yoga ist ein schrittweise wachsendes Vertrauensverhältnis

Bhakti Yoga ist der Kern der tantrisch-yogischen Praxis von Amrita Mandala und vereint alle Aspekte der Praxis. Zu Beginn des Tantra-Weges steht der Guru stellvertretend für unsere Buddha Natur, zu der wir ein immer tieferes Vertrauensverhältnis aufbauen. Hätten wir nämlich von Anfang bereits perfektes Vertrauen in den Guru bzw. in unsere Buddha Natur, dann bräuchten wir gar kein Tantra Yoga. Es ist also ganz normal, dass zu Beginn des Erleuchtungswegs zuerst schrittweise Vertrauen in die Praxis, in die Gurus und letztlich in die nonduale Freiheit aufgebaut wird. Für die meisten Praktizierenden sind die Gurus deshalb erstmal ein persönliches Gegenüber, zu dem man eine Beziehung aufbaut und dadurch immer mehr Geborgenheit und Unterstützung erfährt. Je mehr wir die inneren Qualitäten des Gurus zu spüren beginnen, desto öfter und umfassender nehmen wir Zuflucht in seiner Präsenz, sowohl in der Praxis als auch im Alltag. Die Gurus werden zu Begleitern all unserer Lebensumstände, egal ob angenehm oder unangenehm. Bis wir schliesslich zu keinem Zeitpunkt und in keiner Erfahrung mehr von der Essenz der Gurus getrennt sind.

Bei Amrita Mandala bauen wir die Verbindung mit einer Vielzahl von Buddhas auf, der sog. Familie der Mahasiddhas. Die Hauptgurus unserer Linie sind dabei Guru Rinpoche alias Padmasambhava und dessen Schülerin Yeshe Tsogyal, die im 8./9. Jahrhundert n. Chr.  gemeinsam das nonduale Tantra Yoga aus Indien im Hochland von Tibet verbreitet haben. Ansonsten gehören zur Mahasiddha Familie auch Meister und Meisterinnen aus anderen Traditionen wie z.B. Jesus, Krishna oder Lao Tsu. Die vollständige Liste der Mahasiddha Familie findest du hier.

Vipashyana - Dualistische Täuschung durchschauen

Vipashyana ist Sanskrit und steht für "klares Sehen". Bei der Praxis von Vipashyana untersuchen und durchschauen wir die scheinbare Eigennatur bzw. Selbsthaftigkeit von Phänomenen in unserem Geist. Indem wir die Phänomene der dualistischen Getäuschtheit wie eine Naturwissenschaftlerin auf ihre Form, Dauer, Dichte und Substanzhaftigkeit untersuchen, entdecken wir, dass sich keine tatsächliche Eigennatur in ihnen finden lässt. Wir erkennen, dass Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen nicht von anderer Natur sind als der Geist, der sie wahrnimmt. In diesem Augenblick des klaren Sehens kollabiert die dualistische Subjekt-Objekt Spaltung in unserem Geist und wir erleben uns als Buddhas.

Im Gegensatz zur klassischen Geistesberuhigungsmeditation (skt. Shamatha) geht es bei Vipashyana also nicht darum, bestimmte Phänomene wie z.B. Gedanken zu unterdrücken oder dafür zu sorgen, dass diese nicht mehr erscheinen. Wir versuchen nicht, in einen Zustand der Gedankenleere oder mentalen Stille zu kommen. Im Gegenteil, Vipashyana zielt darauf ab, den scheinbaren Gegensatz zwischen Ruhe und Bewegung bzw. Gedanken und Stille zu durchschauen und aufzulösen. Sodass Gedanken, Emotionen und Sinneseindrücke nicht mehr getrennt vom stillen Geist erlebt werden, sondern als dynamisches Leuchten der Stille. Die Erkenntnis der Wesensgleichheit von Stille und Bewegung wird im Mahamudra als der "eine Geschmack" bezeichnet. Bewusstsein und Erscheinungen haben denselben Geschmack der Leerheit.

Zwar beinhalten alle Praktiken des nondualen Tantra Yogas implizit den Prozess von Vipashyana, aber es ist wichtig, Vipashyana auch als eigenständige Praxis zu üben. Der Grund dafür liegt darin, dass die nondualen Tantra Yogas primär auf der feinstofflichen Ebene wirken und den feinstofflichen Körper als Ganzes transformieren. Vipashyana hingegen lässt uns das klare Sehen - den Durchbruch von der dualistischen Getäuschtheit in die nonduale Essenz - direkt im Hinblick auf einzelne Phänomene erleben. Das heisst, wir nehmen direkt wahr, welche mentalen Prozesse dafür sorgen, dass ein Phänomen dualistisch wahrgenommen wird, und wie sich der Schein der Dualität durch diese gezielte Bewusstheit komplett auflöst. Diese kleinen Durchbrüche in die nonduale Essenz geben uns nicht nur Selbstvertrauen bei der Praxis, sondern zeigen uns auch, wo wir auf dem Erleuchtungsweg stehen.

Nonmeditation - Die höchste Praxis

Obwohl die Praktiken des Tantra Yogas und Vipashyana effektive Wege zur Erkenntnis der nondualen Essenz sind, so benutzen sie alle einen Zwischenschritt, um dorthin zu kommen. In den tantrischen Yogas besteht dieser Zwischenschritt aus Mantras, Visualisierungen und Segensgefühlen, bei Vipashyana aus analytischer Untersuchung und einsgerichteter Konzentration. Zweifellos handelt es sich bei diesen Hilfsmitteln um unfassbar wertvolle yogische Techniken, die das Fundament der nondualen Praxis ausmachen. Dennoch gibt es eine weitere Praxis, die komplett ohne Hilfsmittel auskommt und in ihrer Direktheit alle anderen Praktiken übertrifft. Diese höchste Praxis wird als Nonmeditation, Mahamudra oder Dzogchen Atiyoga bezeichnet.

Bei der Praxis der Nonmeditation lassen wir uns direkt und augenblicklich in die nonduale Natur des Geistes fallen und erfahren uns als Buddhas. Wir lassen jegliche Einmischung in unser Erleben los, jeglichen Versuch, einen bestimmten Zustand festzuhalten oder hervorzubringen. Wir lassen unseren Geist in seinem natürlichen Zustand, ohne ihn einzuschränken oder zu fixieren. Wir untersuchen nichts, konzentrieren uns auf nichts oder fügen irgendetwas künstlich hinzu. Das ist mit dem Begriff "Nonmeditation" gemeint.

Wenn wir in Nonmeditation sind, dann befreit sich die gesamte Tendenz der dualistischen Getäuschtheit aus sich heraus und ohne, dass mit Techniken nachgeholfen werden muss. Aus diesem Grund werden die Praktiken der Nonmeditation wie Mahamudra oder Dzogchen auch "Pfad der Selbstbefreiung" genannt. Wir können uns das folgendermassen vorstellen: Die dualistische Getäuschtheit ist wie ein gewundenes Handtuch, das wir an beiden Enden festhalten. Wir halten es fest durch unseren ständigen Versuch des Anhaftens und des Widerstands. Unentwegt versuchen wir, in den Erlebensstrom unseres Geistes einzugreifen und künstlich dafür zu sorgen, dass bestimmte Geisteszustände bleiben oder verschwinden. Unterlassen wir nun dieses Eingreifen, lassen wir das Handtuch sofort los und es beginnt sich augenblicklich von selbst zu entwinden. Das heisst, durch komplette Entspannung sämtlichen mentalen Tätigseins beginnt sich unser Geist augenblicklich von der Verwirrung der Subjekt-Objekt Dualität zu befreien.

Wenn Nonmeditation also die höchste und direkteste Praxis ist, warum praktizieren wir dann nicht nur Nonmeditation? Weil wir erst ab einem bestimmten Punkt in unserer Praxis in der Lage sind, tatsächlich in der Nonmeditation zu verweilen. Bis zu diesem Punkt ist die dualistische Tendenz in unserem Geist so stark, dass es quasi unmöglich oder nur für winzige Bruchteile möglich ist, die mentale Tätigkeit komplett zu entspannen. Das heisst, selbst wenn wir die nonduale Natur des Geistes von unserem Lehrer aufgezeigt bekommen und einen ersten Geschmack davon erlebt haben, verbringen wir unweigerlich >99% unserer Nonmeditations-Praxis in einem Zerrbild von Nonmeditation. Auf diese Weise kann aus dem direktesten Weg schnell ein grosser Umweg werden, wenn er (noch) zu steil für uns ist. Das ist der Grund, warum im nondualen Tantra Yoga grossen Wert auf die tantrischen Yogas, Vipashyana, grundlegende Gebete und die Kultivierung von Bodhicitte gelegt wird. Auch wenn diese Praktiken Zwischenschritte beinhalten, so führen sie in den ersten Phasen der Praxis schneller, einfacher und zuverlässiger zu Durchbrüchen in die Buddha Natur. Das wiederum führt dazu, dass wir schneller die Kapazität erlangen, tatsächlich in der Nonmeditation zu verweilen.

3.) Die Frucht der Praxis

Erleuchtung - Verwirklichung der Leerheit

Der Erleuchtungsweg der Leerheitseinsicht ist nicht endlos. Mit jedem kleinen Durchbruch in die Buddha Natur, jedem durchschauten Gedanken oder Gefühl wird die selbstbezogene Tendenz der dualistischen Getäuschtheit in unserem Geist schwächer. Immer mehr Phänomene werden als Leerheit erkannt und integrieren sich in den natürlichen Zustand. Das heisst, Gedanken, Gefühle und nebelhafte Geisteszustände werden zunehmend weniger als Verschleierungen der Buddha Natur, sondern als ungetrennter Ausdruck davon wahrgenommen. Im Mahamudra spricht man davon, dass die Täuschung selbst als Weisheit dämmert.

Je weiter wir also auf dem Pfad der Leerheitseinsicht fortschreiten, desto mehr erkennen wir, was Befreiung wirklich ist. Was Buddhaschaft wirklich ist. Wir erkennen, dass kein Staubkorn in unserem Erleben anders sein muss als es ist, damit wir uns als vollkommen befreite Wesen erfahren können. Während wir am Anfang des Pfades noch das Gefühl hatten, die Buddha Natur vor lauter Täuschungen nicht zu sehen, sehen wir nun nur noch Buddha und keine Täuschung mehr. Alle Phänomene erscheinen nach wie vor, aber sie werden nicht mehr dualistisch wahrgenommen. Wenn schliesslich auch die letzte, subtilste Form von Verschleierung und Selbstzentrierung im Geist durchschaut wird, haben wir Erleuchtung erreicht, die grosse Vollkommenheit.

Die Erleuchtung markiert das Ende der Purifikation des feinstofflichen Körpers. Sämtliche Energie, die durch unbewusstes Festhalten an der ich-Vorstellung in den Schichten des feinstofflichen Körpers (Bhumis 1-10) blockiert war, ist geklärt bzw. befreit. Dadurch ist unser feinstofflicher Körper rein und klar wie ein Diamant, und es gibt keine Energien mehr, die das nonduale Strahlen des Leerheitskörpers trüben. Sowohl die ozeanische Lebendigkeit des feinstofflichen Körpers als auch alle energetischen oder materiellen Phänomene, die aus ihm entstehen, werden nicht mehr als getrennt vom Leerheitskörper wahrgenommen. Das heisst, die 3 Körper werden nicht mehr als unterschiedliche Körper oder Zustände erlebt, sondern als eine nonduale Einheit.

Da es keine Anhaftung mehr an Form gibt, bedeutet die vollständige Verwirklichung der Leerheit das Ende von Samsara. Der Geist versucht nicht mehr, sich eine Identität zu geben, und klammert sich nicht mehr an eine Form. Damit löst sich auch der Pfad der Leerheitseinsicht auf. Es gibt keine Angst mehr vor Samsara und keine Hoffnung auf Buddhaschaft. Samsara war nie etwas anderes als Buddhaschaft und Buddhaschaft war nie etwas anderes als Samsara. Diese Bewusstheit ist der Geist aller Buddhas.

Was kommt nach der Erleuchtung?

Obwohl die Erleuchtung das Ende der Leerheitspraxis und die Auflösung aller dualistischen Getäuschtheit ist, ist sie noch nicht mit vollkommener Buddhaschaft gleichzusetzen. Mit der Erleuchtung erreichen wir die erste Stufe der Buddhaschaft: das Bewusstsein um die wahre Natur aller Phänomene. Dieses Bewusstsein löst allerdings nicht automatisch die körperlich-mentale Konditionierung auf, die sich in unserem Körper und unserer Psyche eingeprägt hat. Das heisst, unsere konkreten Verhaltens-, Gefühls- und Denkmuster funktionieren weiter, als ob da immer noch eine Ich-Identifikation im Geist passieren würde. Das ist vergleichbar mit einem Auto, bei dem wir den Fuss vom Gaspedal nehmen. Obwohl es keinen aktiven Antrieb mehr gibt, rollt das Fahrzeug noch eine Weile weiter. Genauso hallt die karmische Konditionierung der dualistischen Getäuschtheit wie ein Echo in unserem Denken, Fühlen und Verhalten weiter, obwohl sie auf der Ebene des Bewusstseins und der Feinstofflichkeit komplett aufgelöst ist.

In anderen Worten: unser individualisierter, materieller Körper und unsere Persönlichkeit werden durch die Verwirklichung der Leerheit nicht berührt. So erleben wir zwar alle Gedanken, Gefühle und Verhaltensmuster als selbstlos und leer, aber sie können dem Inhalt nach immer noch selbstbezogen, ängstlich und eingeengt sein. Das heisst, auf der ersten Stufe der Buddhaschaft erkennen wir zwar nichts anderes als Buddha in allen Gedanken und Gefühlen, aber es sind noch nicht die Gedanken und Gefühle eines Buddhas.

Entsprechend geht die Praxis nach der Erleuchtung damit weiter, die nonduale Essenz nicht nur auf der absoluten Ebene unseres Bewusstseins, sondern auch auf der relativen Ebene unseres Charakters, Denkens und Verhaltens zu verwirklichen. Wir befreien unseren materiellen Körper von den Auswirkungen der dualistischen Getäuschtheit, die sich auf zellulärer Ebene eingeprägt hat. Im Vergleich zur Vor-Erleuchtungs-Praxis geht es in dieser Phase der Praxis nicht mehr darum, die wahre Natur von Phänomenen zu erkennen, sondern nur noch darum, den materiellen Körper komplett in die ozeanische Lebendigkeit des Sambhogakayas zu entspannen, bis alle zelluläre Verhärtung und Fixierung auf die materielle Wirklichkeit als Folge der dualistischen Getäuschtheit aufgelöst ist.

Vollständige Buddhaschaft - Der Regebenbogen-Lichtkörper

Wenn wir unseren materiellen Körper vollständig von allen zellulären Einprägungen der dualistischen Getäuschtheit purifiziert haben, erreichen wir den Regenbogen-Lichtkörper, was mit vollständiger Buddhaschaft gleichzusetzen ist. Beim Regenbogen-Lichtkörper gibt es keine Verhaftung des Körpers mehr an die materiellen Bedingungen dieser materiellen Welt, weshalb der Körper eines vollständigen Buddhas keinen biologischen Sterbeprozess mehr durchläuft. Anstatt des normalen Sterbeprozesses, bei dem die Lebensfunktionen des biologischen Körpers nach und nach versagen, löst sich der Körper eines Buddhas in den 5 Regenbogenfarben auf, wobei keine leiblichen Überreste zurückbleiben. Dieses Phänomen wird in vielen spirituellen Traditionen als höchste Stufe der Verwirklichung erwähnt und es gibt zahlreiche Zeugenberichte davon. Insbesondere in der Nyingma-Tradition des tibetischen Buddhismus ist der Regenbogen-Lichtkörper gut dokumentiert.